Anfang Oktober 2019 starten die Schüler in Santiago de Chile Proteste in den U-Bahnstationen, da die Fahrkartenpreise um weitere 30 Pesos gestiegen sind. Es ist der Start für weitere Demonstrationen in Santiago und ganz Chile. Die Bevölkerung hat nach 30 Jahren einer Pseudo-Demokratie genug davon, sich weiter zum Narren halten zu lassen. Chile hat zwar in den letzten 15-20 Jahren ein wahres Wirtschaftswunder erfahren, dieses hat sich jedoch nicht in der Bevölkerung widergespiegelt. Auch kämpfen seit Jahren Schüler, Studierende, gemeinnützige Organisationen, Umweltschützer und Gewerkschaften für eine grundlegende Besserung der Lebensqualität für die Gesellschaft und können nur kleine Erfolge verzeichnen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass die gesellschaftliche Krise an die Oberfläche kommt. Am 18. Oktober 2019 gehen von Nord bis Süd die Menschen in Großdemos auf die Straßen, um soziale Gerechtigkeit und ein Leben in Würde einzufordern, z.B.:
- Erhöhung des Mindestlohns
- Qualitative und kostenlose Schulbildung für alle
- Ende der privatisierten Rentenkassen
- Ein besseres und einheitliches Gesundheitssystem
- Erhöhung der staatlichen Mindestrente
Seit dem Beginn der Demos in Chile haben wir auch im Ausland die exzessive Gewalt seitens der Regierung beobachten können. Sie manifestiert sich durch den Einsatz des Militärs während der fünftägigen nächtlichen Ausgangssperre im ganzen Land ab dem 19. Oktober und das aggressive Vorgehen von Spezialeinsatzkräften der Polizei bis heute. Zu den Methoden der repressiven Gewalt zählen Wasserwerfereinsatz mit beigemischten Chemikalien, Tränengas, Pfefferspray, Schrotkugeln und körperliche Gewalt seitens der Polizei.
Abgesehen von den vielen Verletzten und bis dato 43 Toten durch die Staatsgewalt wurden zahlreiche Demonstrierende
von der Polizei festgenommen. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Right Watch, Amnesty International und die UNO haben die Missachtung der Menschenrechte aufgezeichnet und bis Dezember 2019 veröffentlicht. Sie dokumentieren, wie auch das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) in Chile, den Missbrauch der Menschenrechte, Vergewaltigung, Folter und Schläge während der Festnahmen und auch in den einzelnen Dienststellen der Polizei.
Rechtsanwälten, Eltern und den Beobachtern des INDH wird der Zugang zu den Inhaftierten verweigert und bis heute immer wieder erschwert.
Durch die Berichte erfahren Chile und das Ausland, dass Frauen und Mädchen nackt vor Polizeikräften Kniebeugen machen müssen und in separaten Räumen mit Kameras vaginal untersuchen wurden. Männer aller Altersgruppe sind gegen diese sexuellen Übergriffe nicht gefeit. Auch hier finden Vergewaltigungen statt. Homosexuelle werden nicht nur erniedrigt. Studierende, Schüler, Sprecher diverser Organisationen werden verfolgt und überwacht. Man könnte die Aufzählungen endlos weiterführen.
Die aktuellen Zahlen für ganz Chile bis zum 18. Februar 2020 sind wie folgt:
- 35 Tote (zum 18.02.2020, zum 11.03.2020 ist die Zahl auf 43 gestiegen, ohne Berücksichtigung der Dunkelziffern)
- 445 Augenverletzungen
- 34 Personen mit Verlust des Augenlichtes und/oder des Auges
- 2 komplette Erblindungen
- 5.558 Anzeigen über Menschenrechtsverletzungen(davon nur 38 Inhaftierungen von involvierten Polizeibeamten)
- Mehr als 35.000 Festnahmen
- Mehr als 2.500 politische Gefangene, hiervon sind lt. dem INDH 1.249 Minderjährige
- Mehr als 13.000 Verletzte
- 7 neue repressive Gesetze gegen Demonstrierende
Coordinadora por la Libertad de los Presos Politicos
Im Dezember 2019 wird die Coordinadora por la Libertad de los Presos Políticos / Koordinationsgruppe für die Freiheit politischer Gefangener gegründet. Eltern, Verwandte und Freunde der Inhaftierten organisieren sich nun täglich, um die Inhaftierten zu besuchen, ihnen Lebensmittel und diverse Hygieneartikel zukommen zu lassen.
Es werden wöchentliche Demos für die Freilassung der politischen Gefangenen organisiert und internationale Gruppen aufgerufen, sich ebenfalls für die politischen Gefangenen einzusetzen. Nicht nur Erwachsene sind betroffen, 1.249 Minderjährige befinden sich derzeit in U-Haft! Die Gerichte verhängen überhöhte Untersuchungshaft von bis zu 140 Tagen.
Die Kinder und Jugendlichen werden in separaten Einrichtungen des SENAME (staatl. Körperschaft zum Schutz der Rechte der Kinder) inhaftiert. Dazu kommt noch, dass durch neue Gesetze wie die der Staatsicherheit und Barrikaden alle Inhaftierten mit überhöhten Haftstrafen rechnen müssen. Die Polizei hat systematisch auch Aktionen gegen sie inszeniert und behauptet, dass sie während der Demos Molotowcocktails und andere gefährliche Dinge (Feuerzeuge) in ihrem Besitz hatten. Einige eigentlich "neutrale" Richter bezeichnen die meisten Inhaftierten als Gefahr für die Gesellschaft und akzeptieren z.T. keine Beweismittel bei den ersten Verhören. Dieses Vorgehen wird von Anwälten und der Protestbewegung nahestehenden Richtern stark kritisiert.
Die U-Haft wird zum Instrument der Bestrafung.
Alberto Curamil – Longko Mapuche – Umweltaktivist - Territorien der Mapuche-Nation
Nachdem die chilenische Regierung 2013 mehrere Wasserkraftwerke in Auftrag gibt, hat Alberto Curamil das Bedürfnis, gegen diese anzugehen. Er organisiert sein Volk, um dessen gefährdete Territorien zu schützen, die bereits seit Jahren unter Umweltmissbrauch leiden. Er schafft es Anfang 2018, den Bau zweier Wasserkraftwerke in den Mapuche-Territorien gerichtlich zu verhindern. Er konnte beweisen, dass die Mapuche-Nation nicht befragt wurde und die Berichte bezüglich der Umweltschäden gefälscht waren.
Im August 2018 wird er jedoch festgenommen. Die Anklage: Versuchter Mord und unerlaubter Waffen-besitz - eine weitere Kampagne, um die Mapuche zu kriminalisieren und unglaubwürdig zu machen. Für seine Arbeit für den Umweltschutz in Süd- und Mittelamerika erhält er 2019 den Goldman-Umweltschutzpreis während seiner 16-monatigen U-Haft. Am 13.12.2019 wird er von allen Anklagepunkten freigesprochen und kommt frei. Er setzt sich weiterhin für die Umwelt ein und berichtet über Verfolgung und Diskriminierung seines Volkes.
Hungerstreik Mapuche – politische Gefangene in Temuko, 9. Region, Chile – 26. Februar 2020
Am 26.02.2020 treten Machi Celestino Córdova und Juan Chequeta Cheuquepil im Männergefängnis in Temuko in einen flüssigen Hungerstreik ein, Anfang März folgt ihnen Benjamín Mendez. Sie befinden sich wegen falscher Anschuldigungen derzeit in Untersuchungshaft.
Sie fordern die gerechte Behandlung aller inhaftieren Mapuche, um auch innerhalb des Gefängnisses ihre Traditionen wahren zu können. Sie fordern die Einhaltung aller internationalen Verträge und Abkommen bezüglich inhaftierter Indigener! Auch fordern sie die Beendigung der Diskriminierung seitens der Gendarmerie im Gefängnis.
Sie sind es leid, weitere Beleidigungen und Diskriminierungen gegenüber der Mapuche-Nation hinzunehmen und fordern nicht nur die Mapuche- Kommunen, sondern alle Chileninnen und Chilenen auf, sie zu unterstützen und sich zu mobilisieren. Sie fordern die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Der Cabildo Abierto de Bremen fordert
die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in Chile! Beendigung der Kriminalisierung und Verfolgung der demonstrierenden Bevölkerung!